Unsere Biografien in Relation zur Sinnfindung – Freiräume suchen und finden trotz Prägungen
Wir, die Leitung, wollen gerne mit unseren Studentinnen und Studenten diesen Kongress gestalten, ein wenig familiär, nicht auf äußere Effekte zielend, sondern Austausch, Begegnungen und Besinnung anvisierend. Natürlich sind alle Interessenten herzlich eingeladen.
Wir wissen, dass Viktor Frankl (1905–1997) in der Mitte seines Lebens »der härtesten Probe« unterworfen wurde. Der schicksalhafte Bruch in seiner Biografie (drei Jahre unfreiwillig im Konzentrationslager) hat den Wiener Psychiater bis zu seinem Lebensende geprägt. Er musste lernen, damit auf seine Weise umzugehen. Wir, die Nachkriegsgeneration, sind auch geprägt, wenn auch anders. Auch wir mussten und müssen weiterhin lernen, mit verschiedensten Prägungen und schicksalhaften Faktoren zu leben. Jeder von uns geht mit ihnen auf je eigene Weise um. Dabei sucht jeder von uns seinen Sinn, seine Sinn-begleitete Selbstbegegnung.
Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? So fragte sich Franz Ruppert (Jg. 1957) in seinem gleichlautenden Buch (2018). Darin skizzierte er u. a., wie Täter-Opfer-Dynamiken unser Leben bestimmen und wie wir uns daraus befreien. Ein wichtiges Anliegen, wenn es heißt: Es komme darauf an, sich aus Verstrickungen zu entwinden, oder Altlasten, die uns von der Kriegsgeneration her immer noch (ungut) prägen, zu überwinden. Oder die Corona-Situation »irgendwie« meistern zu lernen. Oder mit den Auswirkungen des Ukraine-Krieges, der das Alt-Gewohnte radikal in Frage gestellt hat, umzugehen. Und dann? Was kommt nach der Befreiung aus den unguten Prägungen und Verstrickungen? Wozu und Woraufhin will ich die Zeit, die mir geschenkt ist, verwenden?
Wir bejahen mit Viktor Frankl was er, nach seiner Befreiung aus dem vierten Konzentrationslager (am 27. April 1945) verschiedentlich formuliert hat. Einerseits fühlte er sich traumatisiert und trauerte eine ganze Weile um sehr hohe Verluste (Eltern, Ehefrau, Bruder). In dieser Phase sprach er auch davon, dass er »nichts mehr zu erwarten« habe, nachdem seine »Ärztliche Seelsorge« gedruckt sei (März 1946). Andererseits hat er sich in der tiefsten Krise seines Lebens jeden Tag neu entschieden, den Sinn des Tages zu erfüllen (als Arzt, als Vortragender, als Buchautor, als Verfasser von Zeitungsartikeln), auch wenn er zehn Monate hindurch keine Freude empfinden konnte. – Schließlich kam Mitte April 1946 eine neue Liebe in sein Leben: Eleonore wurde seine zweite Frau und sie hat ihn aus der Todessphäre herausgelockt. Ja, es ist die Liebe, die stärker ist als der Tod.
In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts leben wir andere Zeiten als 1945-1950. Materiell geht es uns zwar besser, doch psychisch, seelisch, emotional sind sehr viele Menschen, auch durch Corona hochpotenziert, »leidende Seelen«. Die Kriegskinder, geboren zwischen 1929 und 1945, fühlen sich retraumatisiert unter dem Eindruck der Bilder, die uns aus dem Ukraine-Krieg erreichen.
In diesem europäischen Kontext will unser Kongress ein breites Spektrum von Impulsen mit Blick auf unsere Biografien anbieten, die einen Lern-Prozess der Befreiung aus den unguten Prägungen und aus den alten Verstrickungen in Gang setzen und neue, sinnvolle Perspektiven sichtbar machen. Nach dem Motto: Zwar verstehe ich mein Leben rückwärts, doch leben muss ich vorwärts – in meiner gegenwärtigen Zeit. Wobei »Ich« nicht losgelöst vom »Du« und »Wir« leben kann. Denn: Wir, Menschen einer Zeit, sind auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden.
Wir laden Sie herzlich ein!
Otto Zsok und Nadja Palombo